Folge 8: Das Kritische Orchester - die internationale Werkstatt für interaktives Dirigieren

Shownotes

Im Kritischen Orchester® versammeln sich ehrenamtlich Mitglieder namhafter Orchester, um jungen Nachwuchsdirigentinnen und -dirigenten eine weltweit einzigartige Unterrichtssituation zu ermöglichen: Die Musikerinnen und Musiker selbst sind es, die den Dirigierenden ihr Feedback und ihre Anregungen während der Proben geben.

Musik:

1st Round: Richard Strauss: Sonatine Nr. 2 Es-Dur „Fröhliche Werkstatt“

2nd Round: Josef Suk: Serenade für Streichorchester op. 6 Es-Dur

3rd Round: Felix Mendelssohn Bartholdy: Sinfonie Nr. 3 a-moll op. 56 „Schottische“

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Podcast

Das Kritische Orchester - die internationale Werkstatt für interaktives Dirigieren

Gemeinsam für Musik der Podcast des Deutschen Musikrates.

EH: Dirigent:innen und Orchester auf Augenhöhe. Wie das funktionieren kann, zeigt das Kritische Orchester©. Und das feierte 2024 sein 20. Jubiläum. Mein Name ist Elisabeth Hahn (EH) und ich berichte in dieser Podcastfolge von meinem Besuch beim Kritischen Orchester©.

Sprecher 1

Wir haben versucht, Dirigenten zu helfen. Das ist das Hauptziel. Kritisieren aber mit gutem Willen. Das ist unser Job hier, deswegen mache ich das.

Sprecher 2

Also es geht ja darum, Hinweise zu geben, die sie öffnen.

Sprecher 3

Endlich darf man mal von Innen wirklich auch sagen, was einem vielleicht fehlt an Impulsen oder an Richtungen.

EH: Es ist Mitte März 2024 in Berlin. Die Frühlingssonne scheint in den hellen Krönungskutschensaal der Hochschule für Musik Hanns Eisler. Draußen tummeln sich unter blauem Himmel die Touristen auf dem Schlossplatz, drinnen spielen sich die Musikerinnen und Musiker für die Probe warm. 12 junge Dirigent:innen stellen sich der Kritik des Kritischen Orchesters©.

EH: Das Format ist einzigartig. An 3 Tagen bietet das Kritische Orchester© dem dirigentischen Nachwuchs eine Plattform, um mit Profis zu proben und von ihnen ein offenes und konstruktives Feedback zu bekommen. Genau 20 Minuten stehen jedem zur Verfügung. Wer besonders überzeugt, bekommt auch am nächsten Tag die Gelegenheit zu proben und somit noch mehr Feedback für die eigene Weiterentwicklung. Das Kritische Orchester© setzt sich zusammen aus erfahrenen Mitgliedern namhafter deutscher Klangkörper. Die Arbeit ist ehrenamtlich.

LS: Ich möchte einfach, dass die nächste Generation, die da nachwächst, eine Erfahrung in ihrem Berufsleben oder beginnenden Berufsleben hat, an welche sie sich mit Respekt, aber auch mit Freude zurückerinnern.

Lothar Strauß (LS), Konzertmeister der Staatskapelle Berlin und seit 2014 künstlerischer Leiter des Kritischen Orchesters.

Und das bedeutet für mich, dass ich eine Arbeitsatmosphäre schaffen möchte, die es den Dirigenten ermöglicht, auf Augenhöhe mit uns zu kommunizieren.

EH: Dirigentinnen und Orchester auf Augenhöhe? Beim Blick auf die Praxis ist das nicht unbedingt selbstverständlich. Nicht selten entsteht ein Machtgefälle zwischen dem sogenannten Maestro und den ausführenden Musikern. Wird diese traditionelle Hierarchie im Kritischen Orchester also auf den Kopf gestellt? Ich frage ein Mitglied, die Hornistin Sybille Mani (SM).

SM: In dem Moment, wo wir Kritik äußern, sozusagen, oder also konstruktive Kritik äußern, ist es tatsächlich ein bisschen wie das Unterrichten. Aber in dem Moment, wo wir aufhören zu reden und die Person, die da vorne steht, runterschlägt, empfinde ich es immer so, dass er oder sie wirklich das Zepter übernimmt. Und dann in dem Moment bin ich wieder in meiner Rolle als Orchestermusiker. Und ich muss mich - und versuche mich - dem unterzuordnen, was ich da vorne an Impulsen bekomme. Das ist aber ganz automatisch irgendwie klar, finde ich.

EH: Dezember 2002 zum ersten Mal versammelte sich das Kritische Orchester zu seiner Dirigierwerkstatt. Die Idee stammt von Klaus Harnisch, dem ehemaligen Projektleiter des Forums Dirigieren. Gemeinsam mit dem damaligen Rektor Professor Christhard Gössling gründete er die innovative Dirigierwerkstatt. 2024 bewarben sich weltweit über 100 Dirigentinnen und Dirigenten für die Teilnahme beim Kritischen Orchester. Mittlerweile bewährt hat sich der Ansatz, dass mehr Teilnehmende zugelassen werden als in den Anfangsjahren. Dafür entscheidet die Jury des Kritischen Orchesters Tag für Tag, wer weiter proben darf. Seit den Anfängen dabei und in diesem Jahr zurückgekehrt ist Professor Christian Ehwald (CE). Er ist dirigentischer Mentor und bereitet die Dirigentinnen und Dirigenten in Klavierproben vor. Sollte das Kritische Orchester nicht eine Blaupause sein für ähnliche Formate auch außerhalb von Deutschland? Das wollte ich von Christian Ehwald wissen.

CE: Ob es Schule macht, das kann ich jetzt nicht sagen. Es sollte vielleicht Schule machen, aber es ist natürlich auch nicht leicht zu organisieren, das muss man wirklich sagen. Also in der Vergangenheit, also in diesen ersten 10 Editionen, die ich betreut habe, hat es Herr Harnisch im Prinzip im Alleingang gemacht. Die kommen ja alle freiwillig, ohne jegliche Bezahlung, das muss man sich ja auch mal auf der Zunge zergehen lassen. Sie kriegen absolut kein Honorar dafür, das ist ganz erstaunlich, dass sich da Musiker, die auch schwer beschäftigt sind, dann ein ganzes Wochenende zur Verfügung stellen. Ich denke mal, das ist der Hauptgrund, dass das bis jetzt vielleicht noch keine Nachahmer gefunden hat.

EH: Allein die Koordination benötigt entsprechende Kapazitäten. Seit 2016 wird das Kritische Orchester organisiert und durchgeführt vom Forum Dirigieren des Deutschen Musikrates in Kooperation mit der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin.

MK:Mein Name ist Maria Keller (MK). Ich studiere den Master of Music „Orchesterdirigieren“ in der Robert Schumann Hochschule in Düsseldorf, bei dem Herrn Professor Rüdiger Bohn.

EH: Maria Keller ist die erste, die am Freitagvormittag vor das Kritische Orchester tritt. Das Orchester ist offenbar so zufrieden mit ihr, dass sie auch am Sonntag noch proben darf. Ich treffe Maria Keller nach ihrer ersten Probe und merke, dass sie trotz ihrer selbstbewussten Haltung vor dem Orchester und ihrer präzisen Probenarbeit durchaus nervös ist. Kein Wunder, schließlich muss sie wie alle anderen Dirigenten die Kritik der Profis aufnehmen und im besten Fall sofort umsetzen.

MK: Ich glaube, innerhalb dieser 20 Minuten das aufzunehmen und dann gleich zu verbessern, dass ist eine sehr, sehr große Herausforderung. Ich hoffe, dass ich das irgendwie umsetzen konnte. Aber vor allen Dingen für die Zukunft, glaube ich, ist das eine sehr gute Erfahrung, weil sehr viele Kritikpunkte kamen, die aber auf den Punkt formuliert wurden von den ausführenden Musikern, die nie an der Musik vorbeigingen. Also, selbst wenn man es in diesem Moment vielleicht nicht umsetzen konnte, glaube ich, ist es für die Zukunft eine sehr gute Erfahrung.

EH: Und was heißt beim Kritischen Orchester eigentlich gute Kritik? Der künstlerische Leiter Lothar Strauß erzählt aus seiner Perspektive.

LS: Ich achte darauf, dass ich nicht zu viele Worte mache. Die bewusste Reduktion auf das Wesentliche, was ich sagen möchte, lässt es vielleicht manchmal ein bisschen wenig süß verpackt wirken, aber der Inhalt ist mir wichtiger als die Verpackung. Letztendlich habe ich die Erfahrung gemacht, sowohl in meinem Dasein als Konzertmeister als auch als künstlerischer Leiter von diesem Projekt, dass diese Reduktion tatsächlich das Produktivste ist, was man haben kann. Wenn man anfängt wie die Katze um den heißen Brei herum … , dann verliert man sich und dann kommt man doch nicht zum Punkt und man verschwendet seine Zeit und man verschwendet die Zeit der anderen. Das habe ich mir versucht abzugewöhnen.

EH: Proben aus der Sicht eines Orchestermusikers - das bedeutet zum Beispiel Augenkontakt mit den Solostimmen, atmen mit den Bläsern, ausdrucksstarke Mimik, jede Musikerin, jeden Musiker in seinen individuellen Bedürfnissen sehen und entsprechend reagieren. Das sind manchmal zu viele Informationen für 20 Minuten Probenzeit, erzählt Maria Keller.

MK: Bei mir war es jetzt der Fall: Ich habe einige Sachen auch während der Probe gehört, aber ich habe vor allen Dingen viele Sachen in der Pause gehört von den Musikern. Was man in dem Moment viel schneller aufnehmen kann, weil man natürlich auch wieder ruhig ist. Der Puls ist runter, alles mögliche. Aber auch die Sachen, die in der Probe gesagt wurden, die waren sehr gut. Zum Beispiel war, dass sehr sehr dringend Augenkontakt gewünscht wird, dass man sich noch viel deutlicher an die führenden Stimmen wenden muss. Nicht, dass die betreffenden Musiker sonst nicht spielen würden, sondern dass sie einfach schöner noch mal spielen und sich auch wirklich angesprochen fühlen.

EH: Woran erkennt man also eine gut probende Dirigentin? Eine Antwort gibt mir Sybille Mani, Hornprofessorin an der Hochschule für Musik Hanns Eisler und Mitglied im Kritischen Orchester.

SM: Was wichtig ist, ist vielleicht ein bisschen wie unterrichten, dass man zwar genug spielen lässt auch, also dass auch etwas entstehen kann, dass man also nicht zu viel redet und trotzdem die wichtigen und entscheidenden Dinge möglichst schnell also auf den Punkt bringen kann und benennen kann.

CE: Für jeden jungen Dirigenten ist es immer ein Problem, zum ersten Mal oder die ersten Male vor einem Orchester zu stehen.

EH: Das stellt der Dirigentische Mentor Prof. Christian Ehwald fest.

CE: Man ist alleine, hat vor sich, je nachdem zwischen 20 und 120 Musiker mit großer Erfahrung, die die Stücke, die jetzt gerade im Repertoire sind, vielleicht 20 mal schon gespielt haben. Aber der junge Dirigent macht es zum ersten Mal. Also da gibt es natürlich auch ‘ne Barriere zu überwinden und dafür war das immer wunderbar geeignet. Und das Wichtigste war aber, und das ist natürlich auch grad für die jungen Dirigenten ein ganz wichtiger Punkt, immer wieder darauf hinzuweisen, was das Orchester erwartet von dem Dirigenten, was es auch braucht und vor allem auch, was es nicht braucht. Es braucht nicht ständige Kontrolle und Überwachung durch ‘n dezidierten Taktschlag. Es braucht nicht die Informationen, die in der Partitur stehen, die haben die Musiker auch in ihren Stimmen. Ja. Aber es braucht die Information darüber, was nicht in der Partitur steht.

EH: 20 Jahre Kritisches Orchester und was wünscht sich der künstlerische Leiter Lothar Strauß für die nächsten Jahrzehnte?

LS: Ich wünsche, dass dieses Projekt mich überdauert, dass es weiterhin eine Plattform bleibt, die den angehenden Dirigenten ein Ort ist, an dem sie sich gut, möglichst schnell weiterentwickeln können, ohne das Gefühl zu haben, dass man ihnen sozusagen mit Misstrauen begegnet. Sondern dass es einfach eine Atmosphäre ist, wie kluge Leute miteinander sprechen, ohne laut zu werden.

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