Folge 7: Teilhabe und Barrierefreiheit im Musikleben

Shownotes

Konzerterlebnis und Barrierefreiheit - wie gut ist die deutsche Musikszene darauf eingestellt? Welche Erfahrungen machen Menschen mit Behinderungen auf Festivals, in Clubs und im Konzertwesen? Anlass für diese Podcast-Folge ist ein Online-Fokus, den das Deutsche Musikinformationszentrum, eine Einrichtung des Deutschen Musikrates, vor kurzem veröffentlicht hat. Auf miz.org findet man das neue Angebot zum Thema “Inklusion im Musikleben” mit Berichten, Interviews und Fakten aus unterschiedlichster Perspektive. Der Musikjournalist Thilo Braun hat für uns mit Akteur:innen der Szene gesprochen:

  • Laura
  • Ron Paustian, Initiative „Inklusion muss laut sein”
  • Prof. Dr. Irmgard Merkt, Musikpädagogin
  • Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen
  • Stephan Schulmeistrat, Leitung Deutsches Musikinformationszentrum

Verwendete Medien/Musik: https://www.youtube.com/watch?v=JIqesUvoE1k&list=PLPfPNs01OQC3Vl1cnuX3Ly-7Xj-tO_Bbu&ind ex=3 Wacken Aftermovie 22 und https://www.youtube.com/watch?v=2my8Z77Ms_w Wacken Trailer 23 in Session

Transkript anzeigen

Musik und Inklusion von Thilo Braun (TB)

Gemeinsam für Musik der Podcast des Deutschen Musikrates.

(Frauenstimme)

Geschrei und laute Musik

TB: Feuerfontänen schießen aus einem riesigen Stierschädel, es toben ekstatisch schwarz gekleidete Heavy Metal Fans vor der Bühne im Schlamm. Das sind Bilder, die man sehen kann auf dem Wacken-Aftermovie 2022, und ich denke jedem Metal-Fan wird bei diesem Anblick das Herz höher schlagen.

Es gibt in diesem Clip eine Sequenz, da sieht man auch einen Rollstuhlfahrer, der von einer Gruppe über eine holprige Wiese geschoben wird. Mit dem Rollstuhl nach Wacken - kann das gut gehen? Pogende Menschenmassen, Dixi-Klos, schlammige Felder, das wirkt ja alles nicht gerade nach einem barrierefreien Areal. Aber weit gefehlt! Seit fast 20 Jahren begleitet das „Netzwerk Inklusion muss laut sein“ Menschen mit Behinderung auf Festivals wie Wacken.

Was braucht es für einen solchen Besuch und wie gut ist die Musikszene in Deutschland insgesamt aufgestellt in Sachen Barrierefreiheit? Und welche Erfahrungen machen Menschen mit Behinderungen da auf Festivals, in Clubs, im Konzertwesen? Darum soll es gehen in dieser Podcastfolge zum Thema „Teilhabe und Barrierefreiheit im Musikleben“. Herzlich willkommen.

Mein Name ist Thilo Braun. Ich arbeite als Musikjournalist - hauptsächlich im Bereich der Klassischen Musik, gehe aber privat auch mal ganz gern in Technoclubs oder auf Indie-Festivals. Ich habe selbst keine gesundheitlichen Einschränkungen oder Behinderungen und habe mir ehrlich gesagt vor diesem Podcast auch sehr wenig Gedanken darüber gemacht, was für ein Privileg das eigentlich ist - gerade und auch mit Blick auf meine musikalischen Hobbys. Anlass für diese Podcastfolge ist ein Dossier, das die Informationseinrichtung des Deutschen Musikrats, das Deutsche Musikinformationszentrum, veröffentlicht hat. Auf miz.org da findet man einen Onlinefokus zum Thema „Inklusion im Musikleben“ mit Berichten, Interviews und Fakten aus unterschiedlichster Perspektive und zumindest mir hat das, was ich da gelesen habe, wirklich die Augen geöffnet in Bezug auf dieses Thema. Stephan Schulmeistrat (SS) das ist der Leiter des Musikinformationszentrums, hat mir erzählt, wie es eigentlich gekommen ist zu diesem Onlinefokus.

SS: Das Deutsche Musikinformationszentrum beschäftigt sich ja seit jeher mit Daten und Fakten zum Musikleben. Wir beleuchten seine Infrastruktur, wir untersuchen die Entwicklungen in den letzten Jahren - und in den letzten Jahrzehnten. Und deshalb ist es nur konsequent - und war uns auch ein großes Anliegen - das Thema Inklusion, was jetzt ja einen ganz anderen Stellenwert als noch vor wenigen Jahren hatte, und zwar bildungspolitisch wie kulturpolitisch, einmal näher zu betrachten und uns zu fragen, wo stehen wir im Musikleben eigentlich, wenn wir über das Thema Inklusion sprechen.

Laura: Hi.

TB: Wie geht es dir? Alles klar? Laura: Ja, mir geht's gut. Und Dir? TB: Mir geht es auch gut.

(das Interview/die Unterhaltung verschwindet ganz leise im Hintergrund)

TB: Die Person, mit der ich mich hier treffe im Video-Call heißt Laura. Laura ist 25 Jahre alt, sie wohnt in der Nähe von Hannover und sie liebt Musik über alles. Ganz besonders Deutschrock und Punk. Auf ihrem Profilbild bei WhatsApp, da lächelt sie stolz in die Kamera. Mit ihren rot gefärbten Haaren sitzt sie da im Fanshirt und hinter ihr stehen die zwei Jungs der Deutsch-Rockgruppe SDP. 2023 war Laura bei denen auf dem Konzert. So ein Konzertbesuch, der ist für Laura aber mit einem ziemlichen Aufwand verbunden, denn sie ist auf einen Rollstuhl angewiesen.

Laura: Ich bin mit einem offenen Rücken geboren, der aber nach meiner Geburt sofort verschlossen wurde. Und dadurch sind halt die Nerven, die fürs Laufen eben zuständig sind, nicht zusammengewachsen.

TB: Barrierefreiheit, das ist also die Voraussetzung dafür, dass Laura überhaupt mobil sein kann, und zwar in allen Bereichen ihres Lebens. Wie so ein Konzertbesuch bei ihr abläuft, das habe ich sie gefragt.

Laura: Das fängt erst mal damit an, wie bei jedem, ich sag jetzt mal Mädchen, jeder Frau: Was ziehe ich an? Das ist so das typische Problem, da bin ich nicht anders als ein Zweibeiner.

TB: Laura möchte also als Konzertgängerin eigentlich keine Sonderrolle einnehmen. An erster Stelle steht ihre Leidenschaft für Musik und nicht ihre Behinderung. Beim Ticketkauf, da ist sie dann aber schon mit den ersten Hürden konfrontiert.

Laura: Ich muss grundsätzlich anrufen bei Hotlines, um ein Ticket zu bekommen. Und dann ist es halt so, dass du stundenlang in der Warteschleife sitzt, ne?

TB: Ja, weil Rollstuhltickets gibt es meistens nicht online und das nervt Laura natürlich. Hat sie dann ihr Ticket bekommen, dann muss sie klären, wie sie zur Location kommt. Einfach alleine in den Zug steigen, ist nämlich nicht.

Laura: Das Ding ist, dass ich alleine aufgrund gewisser Dinge einfach nicht sehr gut zurechtkomme. Deswegen schminke ich mir das eigentlich auch schon blöderweise halt auch ein bisschen ab, ne.

TB: Laura hat zum Glück ein Umfeld, das sie unterstützt und begleitet - so gut es eben geht. Meistens kommen ihre Schwester oder ihr Vater mit auf die Konzerte. Ist sie dann da angekommen, also am Konzertort, dann muss sie rausfinden, wie sie ins Gebäude kommt. Denn der Haupteingang ist ja nicht immer barrierefrei.

Laura: Wo ich dann angeguckt werde: "Äh, Rollstuhleingang? Weiß ich nich. Frag mal den und den." Manchmal hab ich dann Glück, dann frag ich den nächsten. Der weiß es direkt. Und manchmal hab ich Pech, dann muss ich noch n Dritten fragen. Das sind halt schon so Dinge, wo die Kommunikation nicht so funktioniert wie man sich das wünscht.

TB: Ja und drinnen geht die Suche dann weiter. Wo sind die Rollstuhlplätze und wie sind sie?

Laura: Ich persönlich finde es immer kritisch, wenn die Rollstuhlbühnen links oder rechts von der Bühne stehen, wo du quasi einen Giraffenhals machen musst, um drauf zu gucken auf die Bühne.

TB: Laura hat für ihr Ticket gezahlt, genauso wie alle anderen auch. Warum sollte sie also, nur weil sie auf einen Rollstuhl angewiesen ist, schlechter sehe? Wenn es nicht zu wild zugeht, dann versucht sie daher manchmal, direkt vor die Bühne zu kommen. Aber das lehnen Veranstalter auch manchmal ab. Es geht um deine Sicherheit, heißt es dann oft.

Laura: Ich sage: ja, ist richtig. Aber warum guckt ihr speziell auf meine Sicherheit mehr, als jemand anderes in der 1. Reihe. Das klingt jetzt vielleicht krass, aber ich sag mal: Jemand in der 1. Reihe, der sich verletzt, so, da sagen die Leute: ja nun, hat er sich selber so ausgesucht. Aber beim Rollstuhlfahrer heißt es: Du darfst nicht in die

1. Reihe, weil du könntest dich verletzen - und das finde ich doof.

TB: Solche Geschichten höre ich in der Recherche immer wieder. Aus Angst, etwas falsch zu machen, werden vorschnelle Entscheidungen getroffen, und zwar über die Köpfe der betroffenen Menschen hinweg. Das verletzt und es macht wütend. Schließlich ist Barrierefreiheit keine Wohltat, nach dem Motto „Seid froh, dass ihr überhaupt kommen dürft!“, sondern geltendes Recht. Im Februar 2009 da hat Deutschland die UN- Behindertenrechtskonvention ratifiziert. Das heißt, dass die Regularien von allen staatlichen Stellen umgesetzt werden müssen. Was da genau drin steht in diesem Gesetz, das hab ich mir erklären lassen von Irmgard Merkt (IM). Sie hat jahrzehntelang geforscht im Bereich „Musik und Inklusion“, und sie war lange Professorin im Lehrgebiet „Musikerziehung und Musiktherapie in Pädagogik und Rehabilitation bei Behinderung“ an der TU Dortmund. In unserem Onlinefokus auf miz.org da könnt ihr einen umfassenden Einführungsartikel von ihr finden zum Thema „Musik und Inklusion“. Jetzt aber erstmal ihre Erklärung zur UN-Behindertenrechtskonvention.

IM: Der Artikel 30 der ist so interessant für uns und der ist auch tatsächlich ein Meilenstein.

TB: Artikel 30 bezieht sich auf Kulturangebote und er ist in 2 Abschnitte aufgeteilt.

IM: Da sagt Absatz 1, dass Menschen mit Behinderung das Recht haben, an allen kulturellen Ereignissen, am gesamten kulturellen Material teilzuhaben.

TB: Also an jeder Art von Kultur, von Konzerten über Kino und Theateraufführungen bis hinzu immaterieller Kultur wie Sprache oder Musik.

IM: Also es gibt ein Recht auf Teilhabe und auch Barrierefreiheit aller dieser Orte.

TB: Ganz wichtig: Dieses Recht auf Barrierefreiheit besitzen nicht nur Menschen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, sondern es umfasst jede Art der Behinderung. Es fordert also auch eine Infrastruktur für Menschen mit Sehbehinderung oder induktive Höranlagen für Menschen, die in ihrer Hörfähigkeit eingeschränkt sind. Alles muss so eingerichtet sein, dass Menschen mit Behinderung eigenständig und ohne fremde Hilfe zurechtkommen. So viel zum ersten Absatz von Artikel 30. Und dann gibt es noch den zweiten Absatz, den liebt Irmgard Merkt besonders.

IM: Der sagt nämlich, dass Menschen mit Behinderung das Recht haben, ihr kulturelles intellektuelles Potenzial zu entfalten. Das heißt, das ist ein Satz, der spricht den Menschen das Potenzial zu. Und es gab noch nie einen Gesetzestext, der Menschen mit Behinderung ein bestimmtes Potenzial zugesprochen hat.

TB: Oft wird in diesem Kontext von einem Paradigmenwechsel gesprochen. Was lange als gutmütige Tat galt für die Behinderten - in Anführungsstrichen - wird jetzt zu einem Geben und Nehmen auf Augenhöhe. Menschen mit Behinderung profitieren von der Teilhabe im Kulturleben, aber andersherum profitiert eben auch das Kulturleben davon, dass Menschen mit Behinderungen daran teilhaben, es rezipieren, formen und bereichern.

RP: Wenn ich dir erzähle, was am Anfang mir so alles entgegengeschlagen ist, dann würde man das heute wahrscheinlich diskriminierend nennen.

TB: Das ist Ron Paustian. Ron erinnert sich noch gut an die Zeit vor gut 20 Jahren, als er angefangen hat zu kämpfen, für eine barrierefreie Musikszene. Er ist selbst leidenschaftlicher Heavy Metal-Fan und in einem Dorf aufgewachsen, das nur einen Katzensprung weit entfernt ist vom Wacken Open Air.

RP: Wenn ich im Sommer im Garten sitze, könnte ich die Konzerte in voller Lautstärke mithören.

TB: Selbst aufs Festival gehen, das war für Ron aber schwierig, denn er hat Panik vor Menschenmassen.

RP: Das hat mich ja bei Konzerten oftmals ausgeschlossen. Ich brauchte immer Sonderinformationen, die es früher nicht gab und ich brauchte immer jemanden, der mitgeht.

TB: Auf Fotos, da kann Ron ziemlich finster dreinschauen. Wenn man mit ihm spricht, dann spürt man aber sofort seine warme Herzlichkeit und seine Hilfsbereitschaft. Ron ist jemand, der sich für die Menschen interessiert, die ihm gegenübersitzen. Diesen Respekt, den fordert er aber auch von anderen ein und er hat sich entschlossen, dafür zu kämpfen.

2009 da hat Ron den Verein „Inklusion muss laut sein“ gegründet. Das ist ein Netzwerk, das Menschen mit Behinderungen dabei unterstützen möchte, Kulturveranstaltungen zu besuchen. Ron arbeitet dabei auf beiden Seiten. Einerseits berät er Festivals oder Clubs in Sachen Barrierefreiheit, vom rollstuhlgerechten Eingang über die behindertengerechte Toilette bis hin zum FAQ auf der Website. Und auf der anderen Seite unterstützt er die Konzertbesucher:innen und hat dafür ein geniales Netzwerk entwickelt, die „Buddies“. Buddies das sind knapp 12.000 Ehrenamtliche. Die hat Ron im Laufe der Jahre in ganz Deutschland gesammelt. Die Grundidee „Inklusion muss laut sein“ vermittelt eine kostenlose Begleitperson für Kulturevents, zum Beispiel für den nächsten Opernbesuch.

RP: Dann frage ich ab, ja, welche Bedürfnisse hast du, was stellst du dir vor, von wo geht die Begleitung los und was wünschst du dir, also männlich, weiblich, divers, was auch immer. Und dann schaue ich in meine Datenbank, gucke nach dem Umkreis und gucke, wer Oper angegeben hat. Die bekommen eine Nachricht mit einer anonymisierten Anfrage, also die wissen, es geht um jemanden blinden und sie wissen den Ort, die Zeit und was gewünscht ist. Und dann melden die Buddies sich zurück: Ja oder Nein, das sind die beiden Optionen. Wenn ja, dann bekommen die

Buddies die Nummer und dann tauschen Begleitwilliger und Begleitung sich aus. Und wenn die sich sympathisch sind und sagen, wir können uns das vorstellen, dann gehen die beiden unterwegs. So einfach ist das.

TB: Auch Laura hat das Buddy Programm von Ron schon ausprobiert. Vor ein paar Jahren, da wollte sie unbedingt zu einer Autogrammstunde von einer Lieblingsband und Vater und Schwester hatten diesmal keine Zeit.

Laura: Dann hab ich den Ron angeschrieben, hab gesagt: du pass mal auf, ich weiß es kommt jetzt relativ plötzlich und auch sehr kurzfristig, aber es geht da und darum. Hast du jemanden für mich?

TB: Es klappt. Ron vermittelt ihr Buddy Moni.

Laura: Er hat dann gesagt: Hier, ich habe jemanden gefunden, die ist super lieb, die ist total nett. Ich habe ihr von dir erzählt, die freut sich total. Hier hast du ihre Nummer, schreib ihr doch mal.

TB: Ron hatte das richtige Gespür. Die beiden haben sich sofort verstanden. Moni hat dann Laura abgeholt, mit dem Auto von zu Hause und ist mit ihr nach Hamburg zur Veranstaltung gefahren.

Laura: Und dann komme ich da rein, also diese ganze Etage, wo das stattfinden sollte, war voll. Ne ganze Reihe über das Gefühl von 5 Kilometer lang. Und ich dann, wie ich so bin ja: OK, kommen wir halt ein bisschen zu spät und dann sagt sie so: Nee, sag mal, spinnst du?

TB: Moni spricht mit dem Personal, schließlich könne Laura ja nichts dafür, dass sie ein bisschen länger braucht als andere. Und tatsächlich darf sie etwas weiter nach vorne. Die Band nimmt sich dann auch extra Zeit für sie und Laura ist super happy. Über das Autogramm in der Sammlung, aber auch über die neue Bekanntschaft mit Moni.

Laura: Also das hat wirklich wie Topf und Deckel zusammengepasst.

TB: Und so war das auch bei einem anderen Buddy, den sie über Rons Netzwerk gefunden hat.

Laura: Ich möchte behaupten, dass in beiden Fällen meiner Unternehmung mit meiner Begleitung auch Freundschaften entstanden sind. Auch wenn man sich nicht so regelmäßig sieht. Man weiß, man kann sich mal melden, ne, und das find ich dann auch schon schön.

TB: Zum Thema Teilhabe gehört aber nicht nur das passive, sondern auch das aktive Musikleben, wie Irmgard Merkt ja vorhin schon betont hat. Die Möglichkeit also, sich selbst musikalisch zu entfalten. Im Sinne des Potenzials gesprochen, könnte man auch sagen, wie können wir als Gesellschaft dafür sorgen, dass Menschen mit Behinderung unsere Musiklandschaft bereichern?

TB: Thonkunst, so nennt sich der Chor, der dieses schöne a-cappella Version von "And so It goes“ von Billy Joel singt. Thon schreibt sich in diesem Fall mit TH, denn der Name der Gruppe bezieht sich auf Thonberg. Das ist ein Stadtteil in Leipzig, in dem es eine Diakonische Werkstatt für Menschen mit Behinderung gibt und zu deren Angebot gehört dieser Chor Thonkunst.

TB: Seit schon 16 Jahren singen bei Thonkunst Menschen mit und ohne Behinderung mehrstimmige a-cappella Sätze auf bemerkenswert hohem Niveau. Dafür gab es 2020 auch den Mozart Preis der Sächsischen Mozartgesellschaft.

Der Chor ist für mich ein Paradebeispiel für das künstlerische Potenzial, denn er verdeutlicht: geistige oder körperliche Behinderungen in einem bestimmten Bereich schließt die Exzellenz in einem anderen Bereich nicht aus. Wenn solche Talente an externen Hürden scheitern, wie der Barrierefreiheit, dann gehen kostbare Schätze verloren. 

TB: Wer schon mal in einem Chor gesungen hat, der weiß, wie sehr Singen eine Gruppe zusammenschweißen kann. Dabei muss musikalische Perfektion nicht zwangsläufig im Mittelpunkt stehen, ein Chor ist auch ein sozialer Ort. Forscherin Irmgard Merkt wollte diese Erfahrung für Menschen mit Behinderung zugänglich machen und hat an der TU Dortmund einen inklusiven Chor angeboten.

IM: Dann war… war die erste Idee, die Menschen aus den Werkstätten zusammenzubringen, zu einem Chor. Und meine Parallelidee war: Ich möchte gerne, dass die Studierenden mit denen zusammen singen! Damit nämlich Studierende während des Studiums schon Kontakt haben mit sozusagen ihrer späteren Klientel.

TB: Wöchentlich haben sich dann die Sängerinnen und Sänger getroffen und Programme einstudiert. Dabei war die Gruppe der Teilnehmenden in ihren Fähigkeiten und ihren Wünschen extrem divers.

IM: Manche konnten lesen, manche konnten Tonreihen/tonrein singen. Andere konnten überhaupt nicht Tonreihen  tonrein singen. Andere konnten nach Gehör Volkslieder auf der Blockflöte spielen und andere konnten überhaupt sich nicht, sozusagen, zurücknehmen. Wenn sie auf irgendeinem Trip waren,  dann haben die laut herausgesungen. Und andere wollten nur dabei sein, weil sie es schön fanden. Die haben überhaupt nicht mitgesungen, die saßen da und kamen hinterher und haben gesagt: Frau Merkt, heute war es wieder so schön. 

TB: Ja, der Chor wurde zu einem Ort der heiteren, ungezwungenen Begegnungen zwischen Menschen mit und ohne Behinderung, deren Leben sich bisher kaum gekreuzt hatte. Irmgard Merkt gibt aber auch zu: es war anstrengend - organisatorisch, aber auch emotional.

IM: Und das Ganze klappt nur, wenn sie signalisieren: ja, ich bin auch ansprechbar. Wenn zum Beispiel am Anfang jemand auf dem Stuhl sitzt und weint, dann können sie nicht vorne hingehen und sagen, jetzt fangen wir mit dem Lied an und "Hallo" ne, sondern dann geht man natürlich hin und sagt, "was ist los?".

TB: Mehrere Jahre hat Irmgard Merkt den Chor geleitet. Für sie war das ein Herzensprojekt. Sie sagt aber auch, die Teilhabe am Musikleben, die darf nicht abhängen vom guten Willen einzelner. Angebote für Menschen mit Behinderung müssen strukturell mitgedacht werden, etwa in der Ausbildung von Chorleiterinnen und Chorleitern. Dabei betont Irmgard Merkt, es müssen nicht immer alle Bedürfnisse gleichzeitig abgedeckt werden. Jede Behinderung, sei sie körperlich oder geistig, ist anders und erfordert spezifische Hilfestellungen. Wichtig ist nur, dass es Angebote für jede Gruppe gibt.

TB: Inklusion im Musikleben kann und muss unterschiedlich aussehen, auch im bestehenden Konzertbetrieb gibt es inklusive Projekte und ein besonders kreatives Beispiel dafür ist die Frühjahrstournee des Bundesjugendorchesters aus dem Jahr 2023. Denn da hat das Orchester gemeinsam mit hörgeschädigten Menschen ein Konzertprogramm entwickelt. In diesem Stück „The Weight of Ash“ von Mark Barden haben Menschen mit Höreinschränkungen gemeinsam musiziert mit Mitgliedern des Bundesjugendorchesters. Wie ist das möglich? Die Menschen mit Höreinschränkungen hatten Cochlea-Implantate. Das sind Innenohrprothesen, die akustische Wahrnehmungen direkt ans Gehirn senden. Die Klänge kamen also bei allen Beteiligten an, wurden aber natürlich unterschiedlich wahrgenommen. Die wesentliche Botschaft, die war aber unmissverständlich: Musik ist für alle da.

TB: Die UN-Behindertenrechtskonvention hat in den vergangenen 15 Jahren in Deutschland vieles positiv verändert. Opernhäuser veranstalten heute Vorstellungen mit Audiodeskription, Rockfestivals investieren in Rampen oder Podeste und inklusive Unterrichtskonzepte gehören schon lange zum festen Repertoire öffentlicher Musikschulen. Das Bewusstsein für die Thematik ist heute also sehr viel größer geworden. Aber klar ist auch, es geht noch zu langsam - vor allem, wenn die schönen Ideen auch umgesetzt werden sollen. Oft fehlt es schlicht an dem, an dem es immer fehlt: am Geld. Ron Paustian macht das deutlich am Beispiel „Barrierefreiheit in der Clubszene“.

RP: Wir sprechen über Clubs, die sich gerade mal durch ihre Einnahmen über Wasser halten können. Wir sprechen nicht über riesige Eventhallen, die von allen Seiten gefördert werden. Dann muss sich auch da Verständnis aufbringen und muss sagen: es muss irgendwo Geld bereitgestellt werden, damit solche Sachen überhaupt finanziert werden kann. Zum einen die Beratung, zum anderen die Umbauten, das ist halt ein Prozess und wenn kein Geld da ist, geht es halt wesentlich langsamer.

TB: Ähnlich wie Ron Paustian fordert auch Jürgen Dusel (JD) mehr Investitionen für ein inklusives Musikleben. Jürgen Dusel wurde 2018 von der Bundesregierung zum Beauftragten für die Belange von Menschen mit Behinderungen ernannt.

JD: Also wir haben im Koalitionsvertrag ja ne Menge verabredet. Also was heißt, wir, die Koalitionsfraktionen haben das verabredet. Und jetzt geht es halt darum, dass es auch umgesetzt wird . Und da sage ich als Behindertenbeauftragter der Bundesregierung, da können wir mal einen Zahn zulegen, also so ein bisschen ins Presto kommen, weil zurzeit ist das alles noch sehr, sehr Grave.

TB: Für Jürgen Dusel war Musik der Weg zu mehr Teilhabe. Als sehbehinderter Mensch hat ihm das Musikhören und Musik machen Inklusion ermöglicht. Wie das funktioniert hat, das könnt ihr auf miz.org nachlesen. Da findet ihr ein ausführliches Interview mit ihm. Für den Deutschen Musikrat ist es ein Anliegen, das Thema „Musik und Inklusion“ stärker ins Bewusstsein zu bringen. Wir hoffen, dass dieser Podcast, ebenso wie der Onlinefokus, dazu Impulse liefern können. Denn wir glauben, dass von einem inklusiveren Musikleben am Ende wir alle profitieren. Stephan Schulmeistrat vom Deutschen Musikinformationszentrum bringt es auf den Punkt.

SS: Menschen mit Behinderung die Teilnahme am kulturellen Leben zu ermöglichen, ist ja längst keine Frage mehr nur der Fairness, sondern es unterstreicht eigentlich die Grundvoraussetzung. Es unterstreicht eigentlich unser Grundverständnis von Demokratie.

TB: Und wenn ihr euch jetzt fragt, ob ihr selbst was tun könnt für mehr Inklusion im Musikleben, dann werft doch mal einen Blick in das Magazin des Deutschen Musikinformationszentrums auf miz.org. Da findet ihr den Onlinefokus „Inklusion im Musikleben“ mit vielen inhaltlichen Impulsen und Ansprechpersonen, die euch sicher weiterhelfen können. Aber vor allem: traut euch einfach mal loszulegen, etwa als Buddy bei „Inklusion muss laut sein“. Da braucht es keine spezielle Ausbildung, es geht um die Bereitschaft, sich auf einen anderen Menschen und auf seine Bedürfnisse einzulassen. Sowieso keine schlechte Übung, oder? Ich danke an dieser Stelle herzlich allen Interviewpartner:innen, Ensembles, Menschen, Institutionen, die diesen Podcast ermöglicht haben. Thilo Braun ist mein Name, auch für mich war es eine Freude, als Host diese Folge zu gestalten, ich sage Tschüss und bis zum nächsten Mal.

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